Persönliche Erklärung zu zwei Abstimmungen am 18. September 2020 über ein humanitäres Aufnahmeprogramm für Geflüchtete aus Moria

Persönliche Erklärung der Abgeordneten Saskia Esken zum Abstimmungsverhalten nach § 31 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu TOP ZP 18 und ZP 25

Eigentlich mag ich den Streit mit den Linken nicht und auch nicht mit den Grünen. Denn die Geschichte der Migration nach Deutschland und Europa zeigt, dass es eine menschliche Flüchtlingspolitik ohne Linke und Grüne und ohne SPD nicht gibt.

Aber warum stellen nun Linke und Grüne Anträge, von denen schon bevor sie geschrieben wurden, bekannt ist, dass sie keine Mehrheit finden? Ich finde es nicht in Ordnung, Geflüchteten Hoffnungen zu machen, obwohl klar ist, dass es im Bundestag keine Mehrheit dafür gibt, eine größere Zahl nach Deutschland zu holen als schon beschlossen. Auch gegenüber den vielen hilfsbereiten Menschen in Deutschland sind derartige Verwirrspiele nicht fair.

Die Zustände auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln sind seit langem katastrophal und unerträglich. Durch die verheerenden Brände im Flüchtlingscamp Moria hat sich die Lage nochmals massiv verschlechtert. Rund 13.000 Menschen haben nun auch noch ihr letztes Dach über dem Kopf verloren. Frauen, Männer und Kinder leben buchstäblich auf der Straße. Es handelt sich um eine humanitäre Katastrophe. Die schrecklichen Bilder und Schicksale der Menschen dort können keinen Menschen mit Herz kaltlassen. Wenn es in einer solchen Situation keine Mehrheit dafür gibt, die Flüchtlinge nach Deutschland und andere Mitgliedstaaten von Europa zu holen, dann kommt es zunächst darauf an, den schutzbedürftigen Menschen wenigstens in enger Kooperation mit der griechischen Regierung sofort zu helfen, um diese menschenunwürdige Situation zu entschärfen. Die Menschen dort brauchen jetzt eine Unterkunft, Verpflegung und medizinische Versorgung.

Wer würde einem Antrag, der die Rettung der Menschen aus diesem Elend fordert, widersprechen? In Wirklichkeit wissen sowohl die Linken als auch die Grünen, die einen ähnlichen Antrag schon im März einbrachten, genau, dass der Antrag abgelehnt werden wird und dass auch wir ihn ablehnen werden. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Der schlimmste Grund: es gibt im Bundestag keine Mehrheit für eine wirklich humane Flüchtlingspolitik. CDU und CSU und FDP und Rechtsextreme verhalten sich graduell unterschiedlich, sind aber gegen die weitere Aufnahme von Geflüchteten.

Aber das ist nicht der einzige Grund:

  • Wenn eine Koalition aus zwei oder – wie gegenwärtig – mehreren Fraktionen gebildet wird, verabreden die Koalitionsparteien im Koalitionsvertrag, nicht gegeneinander zu stimmen, oder genauer: einem Antrag nur zuzustimmen, wenn alle drei zustimmen. So gibt es sogar den absurden Fall, dass ich gegen eine Antrag stimme, den ich zuvor schon selbst eingebracht habe, der aber nun nur deshalb von der Opposition eingebracht wird, um diesen Widerspruch zu erzeugen. Und dies wissen natürlich auch jene, die solche Anträge erneut einbringen. Ein Spiel der Opposition – auch um Positionen und Ziele deutlich zu machen. Das passiert in Landtagen und im Bundestag und darin unterscheiden sich die Fraktionen kaum. Manchmal gibt es dann sogar gute Debatten und Erkenntnisgewinn.
    Für mich ist die Grenze dieser Methode erreicht, wenn mit solchen Anträgen falsche Hoffnungen gemacht werden. Natürlich klammern sich Menschen in Not an jeden Strohhalm – und dann kommt ein böser Dritter und reißt den Strohhalm wieder weg.
  • Diese Verabredung im Koalitionsvertrag ist eine Notwendigkeit, um verlässliches Regieren zu ermöglichen. Würde die SPD diesem Antrag der Linken oder dem der Grünen zustimmen, würde sie somit eine der zentralen Vereinbarungen einer jeden Koalition aufkündigen. Eine der Folgen wäre, dass sich die Fraktionen von CDU und CSU – wenn sie die Koalition nicht gleich aufkündigen – zukünftigen sozialdemokratischen Vorhaben mit dem Verweis auf die fehlende Verlässlichkeit der SPD verweigern oder – im Zweifel noch schlimmer – für die Anträge anderer (rechter und rechtsextremer) Oppositionsfraktionen stimmen. Die SPD könnte die Humanität als Monstranz vor sich hertragen, hätte aber nichts für die Geflüchteten getan – dass ließe sich nur ändern, wenn CDU und CSU ihre Ablehnung aufgeben würden.
    Es wäre folglich keinem einzigen Kind in Moria geholfen und Deutschland hätte stattdessen zusätzlich zu den derzeitigen massiven politischen Problemen eine handfeste Regierungskrise.

Besonders spannend ist auch, dass die Grünen einerseits im Bundestag diesen Vorwurf an die SPD-Fraktion richten, andererseits ihre Schwesterpartei in Österreich mit dem richtigen Argument verteidigen, dass ja gerade nicht sie, sondern ihr konservativer Koalitionspartner Schuld an der Nicht-Reaktion trägt. Dann sollten sich die Grünen in unseren Parlamenten ehrlich machen und aufhören, die Situation der Geflüchteten parteipolitisch aufzuladen.

Was also tun wir stattdessen? Einen kleinen Anfang haben wir gemacht: Bereits in der Nacht zum 11. September 2020 haben wir einen ersten THW-Konvoi auf den Weg nach Griechenland geschickt. „Wir“ klingt gut – wir schaffen die gesetzliche Grundlage und beschließen die Finanzierung, das ist Aufgabe der Parlamente, die Arbeit, das Engagement leisten viele haupt- und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Weitere Aktivitäten sind in Vorbereitung. Auch das DRK hilft. Ohne unsere humanitären Verbände und deren Mitglieder wären wir nicht in der Lage, wirklich zu helfen. Zu unserer humanitären Hilfe vor Ort zählen etwa 1.028 Zelte, 7.000 Schlafsäcke, 1.400 Feldbetten, 22 Sanitärcontainer, Decken und Schlafunterlagen.

Doch auch darüber hinaus müssen wir Griechenland noch stärker unterstützen und entlasten, indem wir geflüchtete Menschen von den Inseln in anderen europäischen Staaten aufnehmen. Deutschland hat bei den anderen EU-Mitgliedstaaten dafür geworben, geflüchtete Menschen aus Griechenland aufzunehmen. Eine wirklich rechtzeitige Abstimmung in Europa hätte natürlich in der Zeit nach etwa 2010 passieren müssen. Das wurde versäumt, stets haben wir uns auf „Dublin“ verlassen und Griechenland und Italien, auch Spanien allein gelassen. Dieses Versäumnis hat 2015 zu hektischen Entscheidungen geführt, auf die niemand vorbereitet war.

Mittlerweile beteiligen sich immerhin elf EU-Länder plus Norwegen und Serbien an der Aufnahme von Geflüchteten. Das begann schon vor den Bränden in Moria in der europäischen Koalition der Menschlichkeit. Beschämend ist, dass sich nicht alle Mitgliedstaaten beteiligen.

Deutschland hat die Aufnahme von knapp 1.000 Menschen, unbegleiteten Minderjährigen, behandlungsbedürftigen Kindern und ihren Familien, zugesagt. In diesem Rahmen haben bislang 758 Geflüchtete Griechenland verlassen können, 574 nach Deutschland, 184 in sechs weitere Länder. Der Prozess läuft leider nur sehr schleppend.

Zudem möchte die SPD in der aktuellen Situation nicht auf die schwerfällige Einigung zwischen mehreren europäischen Mitgliedstaaten warten, sondern unser zugesagtes Kontingent jetzt weiter erhöhen.

Es ist gut, dass sich die Union endlich bewegt hat. Wir nehmen nun weitere 150 Kinder und Jugendliche und 1.553 Menschen, hauptsächlich Kinder und ihre Familien, in einem eigenständigen Kontingent auf. Dies alles ist in der Koalition, leider gegen den erheblichen Widerstand des Koalitionspartners, zustande gekommen. Ich bin froh, dass dies der SPD-Fraktion gelungen ist, stolz kann ich leider nicht sein – weiterhin überlassen wir 10.000 Menschen ihrem Schicksal. Übrigens haben wir etwa 11.000 Kommunen in Deutschland. Und natürlich kann Deutschland nicht „alle Flüchtlinge“ aufnehmen. Solche Formulierungen sollen Angst erzeugen, sollen die positiven Effekte der Zuwanderung verschleiern. Abgesehen davon haben wir gesehen, dass Geflüchtete auch wieder in ihre Heimat zurückgehen, wenn sich die Lage dort verbessert hat.

Gleichwohl sehen wir auch unsere europäischen Partner weiter in der Verantwortung. Deshalb werben wir weiter um Unterstützung für die gemeinsame Initiative aufnahmebereiter europäischer Partnerländer. Auf eine europäische Lösung darf man nicht warten, man muss für sie arbeiten. Das tun wir und wollen uns auch weiterhin entsprechend unserer Kraft und Größe beteiligen. Die Aufnahmebereitschaft vieler Bundesländer und Kommunen in Deutschland ist wirklich vorbildlich. Unser Ziel bleibt es, dass sich am Ende alle europäischen Mitgliedstaaten in diese Solidarität einbringen. Und wir brauchen eine dauerhafte Lösung und einen ständigen Hilfsmechanismus, sodass wir nicht bei jeder Notlage erst in schwerfällige Verhandlungen darüber treten müssen, wer wie viel Unterstützung leistet.

Und es gilt, auch die Herkunftsländer der Geflüchteten zu stabilisieren, damit Geflüchtete in ihre Heimat zurückgehen können – ein Ziel, das kurzfristig aber nicht erreichbar scheint.

Für eine grundsätzliche und langfristige Lösung brauchen wir eine Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik und des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir dazu vor der Sommerpause einen klaren Beschluss mit konkreten Umsetzungsvorschlägen verabschiedet. Wir müssen weg vom Prinzip der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates und brauchen eine gerechte und solidarische Verteilung geflüchteter Menschen auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Nur so schaffen wir dauerhaft eine Entlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen und somit auch insbesondere Griechenlands. Daran arbeiten wir auf EU-Ebene mit Hochdruck. Die EU-Kommission muss endlich ihre seit langem versprochenen Vorschläge präsentieren und diese fortgesetzte Schande an unseren Außengrenzen beenden.

Ein erster Schritt könnte, wie bereits im Frühjahr von uns vorgeschlagen, die Entwicklung eines Pilotmodells für ein gemeinsam betriebenes Asylzentrum unter europäischer Flagge auf den griechischen Inseln sein. Wir lassen nicht nach, bis in Europa europäisches Recht und europäische Werte auch überall durchgesetzt werden. Wir müssen unsere europäische Ratspräsidentschaft nutzen, um die Idee einer solidarischen europäischen Asylpolitik endlich gemeinsam in die Praxis umzusetzen.

Wie schon angedeutet: Es ist ein Irrglaube, dass die SPD-Bundestagsfraktion einfach nur den vorliegenden Anträgen zustimmen müsste und schon kämen die Menschen nach Deutschland.

Im Bundestag haben sich zwei Oppositionsparteien dazu entschlossen, über ihren Antrag jeweils namentlich abstimmen zu lassen. Dabei ist von vornherein klar, dass diese keine Mehrheit erhalten werden. Es gibt derzeit keine linke Mehrheit im Deutschen Bundestag. Wem das nicht gefällt, der muss mit seiner Wahlentscheidung bei der nächsten Bundestagswahl für andere Verhältnisse sorgen.

Einen derartigen Antrag abzulehnen, fällt uns mit Sicherheit nicht leicht. Trotzdem ist es aus oben beschriebenen Gründen richtig. Unser Auftrag als Regierungsfraktion ist es nicht, symbolpolitischen Anträgen zuzustimmen – was effektiv gar nichts verbessert. Wichtiger ist es, konkrete Lösungen zur Verbesserung der Lage zu entwickeln. Und daran arbeiten wir.

 

Persönliche Erklärung der Abgeordneten Saskia Esken zum Abstimmungsverhalten nach § 31 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu TOP ZP 18, Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE. „Konsequenzen aus dem Brand in Moria ziehen – Lager auf den griechischen Inseln auflösen und Geflüchtete in Deutschland aufnehmen“, Drucksachen 19/22264, 19/22579 und ZP 25, Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Nach dem Brand von Moria – Für schnelle Nothilfe und einen menschenrechtsbasierten Neustart der europäischen Flüchtlingspolitik“, Drucksache 19/22679 am 18.09.2020

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