Koalitionsverhandlungen mit der Union? Der Parteitag der SPD entscheidet

Wie viele andere stehe ich als Mitglied der SPD-Fraktion im Bundestag, als Fachpolitikerin für den Digitalen Wandel und als Delegierte meines Landesverbands Baden-Württemberg beim Bundesparteitag am kommenden Sonntag vor dieser wichtigen Frage.

Niemand in der SPD macht sich diese Entscheidung leicht! Nicht die Jusos und viele andere, die mit #noGroko die große Koalition aus grundsätzlichen Erwägungen vehement ablehnen – sie haben wichtige und starke Argumente. Auch ich frage mich, wie die Erneuerung der SPD nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich und personell in einer Regierungsbeteiligung gelingen kann. Auch die, die im Detail abwägen, aber das Ergebnis der Sondierungen nicht wirklich vertrauenerweckend finden, kommen zu diesem Ergebnis nicht ohne Grund. Ich habe ja selbst vor einigen Tagen nach einer guten, kontroversen und konstruktiven Diskussion mit Mitgliedern meines SPD-Kreisverbands eine recht kritische Bewertung dieser Sondierungsergebnisse aufgeschrieben. Ich will aber auch ganz ausdrücklich die Ernsthaftigkeit derer anerkennen, die zu einem positiven Ergebnis kommen oder gar meinen, eine Regierungsbildung mit der Union sei „alternativlos“. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass auch die Alternativen schwierig sind und mit viel Unsicherheit behaftet.

Hat die SPD in der gegenwärtigen Situation überhaupt den Mut für eine Entscheidung? Jedenfalls hat sie den Mut, darüber zu streiten! Bei den Sozialdemokraten fetzt man sich inhaltlich und streitet politisch, und das ist auch gut so! Ich will nicht Mitglied einer Partei sein, wo immer alle einer Meinung sind – oder eigentlich gar nicht viel Meinung haben. Aber auch wenn im Streit mal harte Bandagen angelegt werden, liebe Freunde: Bitte vergesst darüber nicht, dass wir einander nach egal welcher Entscheidung noch ins Gesicht schauen müssen, dass wir einander vertrauen müssen – Freundschaft! – um gemeinsam weiterzukämpfen für eine starke SPD und für eine gerechte Zukunft.

Überall spricht man jetzt – und das ist wirklich großartig - wieder über politische Inhalte und Projekte mit uns. Ich habe in diesem Januar viel politischere Grußworte gesprochen als bei den Neujahrsempfängen 2017. Und alle Bekannten, die Taxifahrer, Apotheker, Bürgermeister sprechen mich auf die Regierungsbildung an – mit durchaus unterschiedlichen und vor allem sehr differenzierten Einschätzungen dazu. Diese Lust an der politischen Debatte auch außerhalb der SPD: Das ist neu und das macht diese Zeiten wirklich spannend.

Anfang der Woche habe ich einen Kommentar zu den Sondierungsergebnisse geschrieben: http://www.saskiaesken.de/statements/sondierungen-in-berlin. Ich finde sie in Teilen mutlos und sehr vage und an anderer Stelle unhaltbar überzogen. Manches habe ich in meiner Bewertung nur angerissen oder sogar ganz weggelassen, und da war manches Positive dabei – ich kann eine gewisse Neigung zum Fehler anstreichen gar nicht abstreiten. Ich habe im Lauf der Woche im Gespräch mit den Sondierern erfahren, wo man auf Granit biss und wo die anderen ihre „unverhandelbaren“ Themen hatten. Ich habe aber auch erfahren, wo man bewusst auf Konkretisierungen verzichtet hat, um noch Verhandlungsmasse zu haben. Immerhin sollte diese Sondierung keine verkappte Koalitionsverhandlung sein, wie wir sie im November bei Jamaika erlebt haben – kein Vertrauen zueinander, aber schon mal Spiegelstriche sammeln.

Da wo ich unkonkret war, bei der Bekämpfung der Kinderarmut, bei der Entlastung von Geringverdienern bei Sozialabgaben, bei der Grundrente, da sind die Sondierungen zu guten, aus sozialdemokratischer Sicht begrüßenswerten Ergebnissen gekommen, die das Leben vieler Menschen verbessern könnten. Bei anderen Themen wie der Rentenformel muss man schon ein bisschen Vertrauen aufbringen, um diese Schecks auf die Zukunft als Erfolg anzuerkennen. Meine Fachkollegen sagen: Das bekommen wir hin.

Ich habe überhaupt nichts zu Europa geschrieben. Das Kapitel ist umfangreich und blumig und nicht sehr konkret. Aber es strahlt schon eine Vision von einem geeinten und solidarischen Europa daraus hervor, vom Ende der Austeritätspolitik von Schäuble und von einer politischen Union, die man gerne verwirklicht sähe. Und es gibt ja unbestritten eine Menge politscher Gestaltungsaufgaben, die wir national gar nicht mehr geregelt bekommen – wir brauchen Europa mehr als je zuvor.

Sträflich vernachlässigt habe ich die Erfolge bei der Bildung: Hubertus Heil hat da in kürzester Zeit ein großartiges Paket verhandelt. Man könnte das Kooperationsverbot beenden und Milliardeninvestitionen in die Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, in berufliche Bildung, in digitale Ausstattung der Schulen freimachen. Und offenbar hat man auch verstanden, dass im digitalen Wandel die Weiterbildung im Fokus stehen muss! Konkreter habe ich das hier beschrieben: http://www.saskiaesken.de/statements/sondierungen-in-berlin-ii

Auch die Parität beim Krankenkassenbeitrag habe ich nicht erwähnt, obwohl sie alle Arbeitnehmer sofort um etwa einen halben Prozentpunkt bei den Abgaben entlasten würde und alle künftigen, klar zu erwartenden Kostensteigerungen im Gesundheitssystem wieder paritätisch verteilen und nicht alleine auf Arbeitnehmerschultern abladen. Die Bürgerversicherung dagegen oder auch nur ein Einstieg durch die Angleichung der Gebührenordnung – da hat die Kampagne der Standesvertreter gezündet, da gehen bei der Union alle Lampen an. Das ist sehr schade, aber es war auch ein bisschen zu erwarten.

Die Bekämpfung der prekären Arbeit, die Wiederherstellung von Anstand auf dem Arbeitsmarkt, wie ich das nenne, ist auch so ein Granitthema. Dabei ist dieser angeblich wirtschaftsfreundliche Widerstand gegen die Arbeitnehmerrechte nicht nur schreiend ungerecht, sondern angesichts des Fachkräftemangels auch riegeldumm. Die Kollegen sagen, da sei nichts zu machen. Ich finde, wenn wir uns auf Verhandlungen einlassen, dann sollten wir genau in diesem Bereich nochmal angreifen.

Die Vereinbarungen zum Familiennachzug sind und bleiben für mich unsäglich und untragbar, und auch wenn man das beim besten Willen nicht herauslesen kann – die CSU feiert sich für ihre „Obergrenze“. Noch vor unserem Parteitag bringt die Union die Aussetzung des Familiennachzugs in den Bundestag ein, das ist eine Provokation sondergleichen.

Bei einigen Themen aus meinem „Fachbereich“ habe ich das Papier als unkonkret und mutlos kritisiert. Dazu gehörte die Öffnung und die Digitalisierung von Regierung und Verwaltung, die Umsetzung von Datenschutz und ePrivacy oder auch das Weißbuch zu Arbeit 4.0. Weil mittlerweile klar wird, dass fehlende Themen nicht raus sind und andere „ausbuchstabiert“ werden sollen -  da wäre ich jetzt schon auch neugierig.

Ein weiteres wichtiges Thema ist und bleibt die versprochene Erneuerung – kein „Weiter so“ dürfe es geben, haben wir gesagt. Deshalb muss nicht nur unsere SPD ihre Strukturen erneuern und mehr Beteiligung und Debatte ermöglichen. Ich finde es nach 12 lähmenden Merkel-Jahren an der Zeit, das Parlament zu beleben, den Fraktionen und den Abgeordneten auch außerhalb ihrer eingefahrenen Rollen mehr Profil zu erlauben. Wir müssen mehr Offenheit in der politischen Debatte ermöglichen, mehr Diskurs, mehr Streit zulassen. Weniges ist dazu vereinbart, die halbjährlichen Orientierungsdebatten stellen einen Impuls, aber nicht gerade eine Revolution dar. Aber mal ehrlich: Wer will sich schon mit der Union zu einer Revolution verabreden?

Ich weiß, Ihr erwartet von mir ein Plädoyer für die Minderheitsregierung. Ich finde dieses Modell auch weiterhin sehr, sehr spannend und habe schon vor dem Scheitern von Jamaika dafür geworben. Dass Merkel das nicht will, ist hinlänglich bekannt, bei einer Union ohne Merkel sähe das vielleicht schon anders aus. In diesem Parlament mit seinen sechs Fraktionen, von denen eine offen rechtsnational und in Teilen radikal gesinnt ist und wo andere dazu eine zumindest unklare Haltung haben … da könnte es zu Konstellationen und Mehrheiten kommen, deren Politik wir uns nicht ausmalen wollen. Mein kluger Freund Ulf Buermeyer hat hier beschrieben, wie der Weg zu einer Minderheitsregierung gegangen werden könnte – und womöglich ganz anders ausginge, als man das erwartet: https://buermeyer.de/ulf/dritterweg/

Ich bleibe dabei, auch Neuwahlen muss die SPD nicht fürchten  – wir haben schon in ganz andere Abgründe geblickt. Und ich kann meine Einschätzung durchaus von der Frage trennen, ob ich danach noch Abgeordnete wäre – politische Mandate sind zeitlich begrenzt, und das ist auch gut so. Wenn ich das Ende meines Mandats dennoch bedauern würde, dann hoffe ich, ihr nehmt mir ab, dass das den Dingen geschuldet ist, die ich gerne bewegen würde.

Die entscheidende Frage ist doch, ob uns nach neuen Wahlen auch neue Wege offenstehen würden. Nach derzeitiger Prognose wäre das Ergebnis kaum anders. Es sei denn … und hier kommt die inhaltliche Erneuerung der deutschen Sozialdemokratie ins Spiel. Die SPD sollte endlich verstehen, dass nicht die angebliche Sozialdemokratisierung der Union das Profil der SPD verwischt, sondern das eigene Reden und Handeln in Zeiten von Schröder und Blair.

Es ist Zeit für die Sozialdemokratisierung der SPD! Haben wir den Mut, uns von Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen aus der Zeit der Agenda zu verabschieden? Haben wir den Mut, eine bessere, freiheitliche, solidarische und gerechte Gesellschaft zu erdenken – gerade in Zeiten des digitalen Wandels, der alles auf den Kopf stellt? Haben wir den Mut, die Zukunft zu umarmen, ihr als selbstbewusste politische Gestaltungsmacht zu begegnen? Dann gelingt uns die Erneuerung der SPD! Doch eines ist klar: DAS bewältigt die SPD nicht über Nacht.

Insgesamt bin ich für mich zu dem Schluss gekommen, dass wir den Mut und das Selbstbewusstsein aufbringen können, uns auf Koalitionsverhandlungen einzulassen. Der Bundesparteitag verlangt für seine Zustimmung zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen womöglich, wie mein Kreisverband in seinem Antrag (http://www.saskiaesken.de/aktuelle-artikel/eesken-zum-sonderparteitag-calwer-genossen-stellen-antrag), eine Erweiterung, eine Schärfung oder eine Beschränkung der Sondierungsergebnisse. Wenn die Delegierten dann zustimmen, dann liegt es an uns, dieses noch dünne, aber potenziell sozialdemokratisch gehaltvolle Sondierungspapier weiterzuentwickeln.

Die Mitglieder und die Freunde der SPD dürften dann erwarten, dass wir hart für viel Sozialdemokratie verhandeln. Und dass wir dafür im Verhandeln auch ein Scheitern in Kauf nehmen. Wenn ein Koalitionsvertrag dabei herauskommen sollte, dann traue ich unseren Mitgliedern die Einschätzung zu, ob diese Koalition ein Himmelfahrtskommando ist, von dem man besser die Finger lassen sollte – oder ob sie für die Menschen und für das Land Gutes bewirken kann Und für den Fall einer Regierungsbildung sollten wir die vereinbarte Sollbruchstelle in der Mitte der Legislatur auch als Gelegenheit auffassen, die GroKo vorzeitig zu beenden und als sozialdemokratisierte SPD in den Wahlkampf zu gehen.

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